Das Bild ist bunt


Viele Befunde muss man nicht ändern, sondern nur mit anderen Augen sehen. Nach herrschender Auffassung folgen orthopädische Beschwerden gern dem mechanischen Körperbild von einem Bewegungsapparat, dessen Gelenke nach Kräften von Muskeln geführt werden. Welche jedoch, neben altersbedingtem Verschleiß, im modernen Lebensstil mit mangelhaften oder monotonen Bewegungen ziemlich schwach oder überlastet seien. Tatsächlich arbeiten Muskeln zum Teil langsam,  logisch, bewusst, rückkoppelnd und berechnend, wenn man will und nicht gerade schläft, erschöpft, verwirrt oder verzogen ist.

Andererseits verkörpert sich schnell  mancher Schrecken im Muskelskelett, selbsttätig, reflexartig, unwillkürlich und unbewusst. Dann sind die Muskeln nicht schwach, sondern verstört: erregt verbeugt und gehemmt verstreckt. Zahlreiche Stressoren, diverse Immunantworten, entgleiste Hormone, verdeckte Entzündungen, feinste Partikel, fremde Eindringlinge, linke Bazillen, olle Kamellen, steile Zähne, geronnene Geschichten, ewige Sorgen, heiße Luft, kalter Zug, zuviel Druck oder Irrtum von oben, bzw. Schwierigkeiten mit der Spannung darüber schmerzfrei umzugehen, können reflexartige Schutzreaktionen  im Muskelskelett in Gang setzen, unterhalten oder verstärken. 

Sogar für Fachleute die ihr Handwerk fachübergreifend verstehen, ist es schwierig, den motorisch-sensorischen Bewegungsmangel von vegetativ-reflektorischen Schutzmechanismen am Muskel-Faszien-Gerüst zu trennen. Denn lautlos, aber mit beiden Armen des vegetativen Nervensystems gut vernetzt, versucht der gesamte Organismus ständig, Störungen im inneren Fließgleichgewicht, der Homöostase, zu vermitteln und durch gegenläufige Reaktionen bestmöglichst auszugleichen. Oft entsteht ein spürbarer Bewegungsverlust als Ausdruck vergeblicher Bemühungen. Rückenblockaden, Gelenksteife, Muskelmüdigkeit und Gewebebarrieren, die sich in Ruhe einfach nicht gut anfühlen, sind unzertrennlich mit reizenden Lebensgeschichten verbunden. Davon gibt es so viele, wie es Augenblicke gibt.

Gefangen in unserer nervigen Fähigkeit zu Erregung und Hemmung, führt das Muskelskelett gern ein sinnloses Eigenleben. Viele Gelenke sind tatsächlich nicht mehr so frei beweglich wie zuvor, aber noch völlig intakt. Nur durch erregte Nerven, gehemmte Muskeln, feine Entzündungen, saures Milieu, gedrosselte Blutzufuhr und falsche Vorstellungen episodisch verspannt, asymmetrisch verzogen, vielschichtig verklebt und letztlich fibrös versteift.
Dem gesamten Bindegewebsgerüst werden wichtige Aufgaben, sowohl für die motorische Bewegung im Raum, als auch für die vorsorglich sichernde Schonstellung nach Schadreizen zugeschrieben. Zahlreiche Krankheiten gehen mit einem gestörten Stoffwechsel einher, lösen entzündliche Gelenkreaktionen aus und sind an den Bändern schmerzhaft. Zudem beschäftigen alltägliche Ereignisse, instinktive Triebe und jede Überlast, mit stressigem Durchhalten oder ängstlicher Vermeidung verknüpft, dauernd unsere Abwehrmechanismen. Damit dient das Muskelskelett nicht als Basis, sondern trägt alles, was wir unterwegs am eigenen Leibe erleben, verästelt mit sich herum. Die verkörperte Erfahrung gibt uns mit der Zeit die Form.
Aus dieser Einsicht findet alles, was Menschen sonst noch so in ihrer Einheit aus Nervenkostüm, Hormonorchester und Immunabwehr mit Selbstbewusstsein betreiben, seine Ausdrucksform im Muskelskelett. Dort, wo der Zufall stark wirkt und entzündliche Gewebestörungen erscheinen, im Immunverhalten vermittelt und durch autonome Nerven unterhalten werden. Man muss sich von sich so einiges gefallen lassen.

Aber auch von den Rechten der Anderen. So ist es Brauchtum der Funktionäre, Leitlinien zu erfinden. Der Begriff „ myofasciale Dysfunktion „ wurde von den Fachgesellschaften, welche sich mit den Beschwerden am Muskelskelett befassen ( Neurologen, Chirurgen, Orthopäden, Rheumatologen, Psychologen ), vor einigen Jahren in den Leitlinien zur Behandlung spezifischer  Beschwerden an der Wirbelsäule eingeführt (www.register.awmf.org ), nachdem dort schon unspezifische Schmerzkrankheiten, neurologische Nervenschäden, degenerative Gelenkschäden, rheumatische Immunschäden und angeborene Fehlstellungen mit den jeweiligen Therapieoptionen rezeptiert wurden. Und nachdem die amerikanische osteopathische Medizin die schmerzhaften Funktionsstörungen am Muskelskelett  bereits traditionell als „somatische Dysfunktion“ bezeichnet hatten.  Und es auch hierzulande langsam dämmerte, dass die bindegewebigen Hüllen der Muskeln und Organe kein träges Gewebe, sondern das körpereigene Fasziennetz  wahrscheinlich unser reichhaltigstes Sinnesorgan mit mehreren hundert Millionen feinster Nervenenden ist. Welches sowohl mit dem vegetativen Nervensystem  und dessen Regulation der Flüssigkeiten innerhalb oder außerhalb von Blutgefäßen, als auch mit dem Immunsystem und dessen Dosierung von vorsorglichen Entzündungsreaktionen, im selbsttätigen Austausch von Informationen steht. 

In der hirnorganischen Grundlagenforschung sind die biologischen Pfade der Sinnesempfindungen bereits hinreichend geklärt. Bekanntlich empfindet der Mensch keine Organe, Gewebe, Zellen, Moleküle, Atome  oder deren elektromagnetischen Schwingungen und Massen, sondern nur Töne, Gerüche, Farben, Geschmack sowie Berührung, Druck und Schmerz. Da diese Sinneserfahrungen in der physikalischen Welt gar nicht vorkommen, braucht man biologische Reiz-Verarbeitungs-Systeme, die jede Art von Signalaktivität peripher erschliesst und das Ergebnis nach zentral zur Bewertung transportiert. Der Ablauf der Empfindungsbildung benötigt physikalische Reize aus der Umwelt oder dem Körper selbst, welche als elektromagnetische Welle, mechanischer Druck oder chemische Substanz einwirken. Trifft solcher Reiz auf Sinneszellen ( Rezeptoren ), die genau auf diesen Reiz spezialisiert sind, passiert eine Umwandlung von Druck, Zug, Schall, Licht, Kälte, Hitze oder Chemie in ein elektrisches Entladungsmuster ( Transduktion ). Den nächsten Schritt nennt man Transformation, wobei das Potential der Aktion an andere Nervenzellen gleicher Baureihe überführt wird. Auf weiteren Stationen in der Einfahrt zum Gehirn findet die Vorverarbeitung über breit aufgestellte Nervenzellen ( Interneurone ) statt. Dort werden die aus anderen Geweben einlaufenden Signale gefiltert, konvergiert, integriert, summiert und je nach Bedarf, Laune und Kontrast verstärkt oder rückkoppelnd gehemmt. Erst nach den Passagen durch das Stammhirn und Rundreise durch den Hades der Gefühlswelten wird die Endverarbeitung in jeweils unterschiedlichen neuronalen Netzwerken vorgenommen. Bis die bis dahin unbemerkte Sinnesflut auf intelligente Weise zum schwierigen Problem der Erklärung kommt: der Bewusstwerdung.
Manche meinen, Neurobiologen könnten gar nicht erklären, wie  Bewusstsein entsteht und ein Empfindungsmoment ausgelöst wird. Es hat nämlich noch niemand gesehen, wie ein physikalischer Reiz, als chemischer Botenstoff verkleidet, in das Seelenleben springt und von dort wieder zurückhüpft.
Trotzdem meinen andere, auch das Bewusstsein des Bewussthabers müsse irgendwo in seinem neuronalen Netzwerken repräsentiert sein. Weil unsere Wünsche, Ziele und Träume, der freie Wille und die eigene Identität, ja unser gesamtes psychisches Geschehen, zwangsläufig auf der Aktivität der Moleküle, und dem Zittern und Zappeln ihrer Atome, in einem Haufen von Nervenzellen beruhe. 
Diese erstaunliche Reduktion riss die Berufs-Philosophen von ihren Lehrstühlen: Mythos Determinismus! Das Ich ist nicht das Gehirn! titelten ihre Bücher an der Gesprächsfront mit den Lehrmeinungen der kognitiven Neurowissenschaft.
Das gute alte Leib-Seele-Problem betrifft die Beziehung  zwischen Körper und Geist, ob sie zwei verschiedene Substanzen oder zwei Aspekte derselben Substanz sind oder ob wir nur Denkschwierigkeiten haben, beide als Einheit zu betrachten. Es gibt allerdings auch eine Verbindung zwischen Körper und Geist, die in beide Richtungen geht. Im myofascialen Alltag geht es nämlich darum, wie Gedanken, Gefühle und Bedeutung in den Schutzmechanismen am Rücken eingewebt sind und zurückwirken. Während früher gedacht wurde, es gäbe so eine Art Bedeutungszentrum für Worte und Gefühle im Gehirn, glaubt man heute eher, dass sensomotorische Wahrnehmung und motorische Körperbewegung durch rückkoppelnde Schleifen miteinander verbunden sind. Mit  naturwissenschaftlichen Erklärungen lässt sich dieser Gegenverkehr allerdings nicht begründen, die analytisch-synthetischen Methoden greifen einfach zu kurz und scheitern schon im Ursache-Wirkungs-Prinzip an der Zeit.
Wie dem auch sei, denkt nun der homöostatisch geprägte Geist: wenn das Gefühl nicht von so enormer Bedeutung für das Überleben wäre, hätte sich die Evolution sich dieses lästigen Aufwandes schon längst entledigt.

 

 

Der Entstehung des gemeinen Rückenschmerzes  entspricht dem Grunde nach dieser allgemeinen Erklärung über Sinnesleistungen. Die besondere kognitive Sinneserfahrung " Hexenschuss !" entsteht aus einer tatsächlichen oder vermeintlichen Schädigung von Körpergeweben, die zwar nicht von Rezeptoren, sondern von feinen Enden  schnell und langsam leitender Nervenfasern, den sog. Nozizeptoren  aufgenommen werden. Diese Schmerzfühler sind in nahezu allen Gewebeschichten auf mechanische, chemische oder thermale Reize spezialisiert, transduzieren, transformieren bis hin zu den Segmenten des Rückenmark, auf dessen Ebene die Impulse mit den eingehenden Signalen aus anderen Geweben verschaltet und aufsteigend weitergeleitet werden. Auf allen Schaltebenen wird pausenlos verstärkt und gebremst und schon dort können reflexartige Schutzreaktionen bis zur myofaszielen Dysfunktion ausgelöst werden, um das Segment, Gelenk oder Organ vorsorglich für die Dauer des Heilungsablaufs aus der Gefahrenzone zu holen.

Jeder kann inzwischen in den gängigen Suchportalen über das Beschwerdekonzept „ Nozizeption „ umfassende und allgemein verständliche Auskunft erhalten. Inhalte der Fachbegriffe wie Neurogene Entzündung  und periphere oder zentrale Sensitivierung  haben das Verständnis von lang andauerndem Schmerz am Muskelskelett enorm verändert. Das natürliche Schmerzsystem hat die biologische Funktion, zum Überleben seiner Spezies beizutragen und ist insoweit spezifisch. Die spezifische Funktion besteht darin, durch das subjektive Erlebnis " Schmerz ", einen körperlichen Schaden zu vermeiden. Das phänomenale Bewusstsein von nozizeptiver Signalaktivität, also wie es ist stechenden Schmerz im Rücken, Bein oder Kopf zu haben, erlaubt uns vernünftigen Lebewesen, aus dem einfachen Reiz-Reaktionsschema auszubrechen, das eigene Verhalten auf der Grundlage sensorischer Information zu ändern und den Umständen entsprechend anzupassen. 

Demnach kommt der Mensch, übersät von feinsten Nervenenden, als aufrecht gehendes Sinnesgebilde daher. Tiefenverspannt und entzündlich bis zum Kontrollverlust gereizt, " dem Ding da ", der entgleisten Maschine mit seinen verstörten Organen, Geweben, Zellen und Molekülen, eine sinnvolle Bedeutung zu geben. Wir gehen nämlich zum Arzt, weil uns unangenehm zumute ist und nicht, weil uns ein materiell-energetischer Reiz auf die Nerven geht. 

Die wissenschaftliche Methode, gedanklich jegliches Gefühl und jeden Gedanken, egal ob hier und jetzt gegenwärtig oder nicht, von körperlich ausgedehnter Masse zu trennen, war für den medizinischen Fortschritt höchst erfolgreich. Keine Prothese, keine Impfung, keine Krebsbehandlung und kein intelligent hergestelltes Medikament ohne diese duale Historie. Man konnte handeln und modern sein, indem die Technik verfeinert wird, ohne die mechanische Erklärung der Lebensvorgänge aufgeben zu müssen. Der Hinweis, ob womöglich die geschlossene Struktur einer Maschine mit einer starren Ordnung verwechselt wurde, die offen auf Reize reagiert, welche dem Beobachter verborgen sind, wurde lange übergangen. Die Zerlegung des Menschen in seine Einzelteile und das Verstehen des Vorgangs hinter dem Vorgang, kann inzwischen auch komplexe Netzwerke, kollektives Verhalten, chaotische Konnektionen, kritische Kipppunkte und coole Krisen auf höheren Ebenen systematisch und informatisch erklären. Auch die Zuweisung von Bedeutung, zum Beispiel eine drohende Gefahr durch Gewebeschaden, ist neben dem Lernen und der Mustererkennung ein wichtiger Akt verknüpfender Intelligenz, da sie die Fähigkeit umfasst, körperliche Informationen zu verstehen, zu interpretieren und ihnen einen Wert zu geben.

Die Entdeckung der Hormone brachte nun Körper und Geist wieder zusammen, indem sie zeigte, dass eine geistige Erfahrung wie Stress, direkt körperlich messbare Auswirkungen hat. Auch ein Lob nützt nichts, ohne die Ausschüttung von Hormonen.
Da wir jedoch, mangels tatsächlicher Fressfeinde, eigentlich keinen Stress haben, sondern nur glauben Stress zu haben, könnte es doch sein, dass eine nozizeptive Schmerzreaktion erst dann entsteht und seine Wirklichkeit erlangt, wenn ein Mensch sich selbst als geschädigt oder zumindest bedroht erlebt. Denn wie kann es sein, dass manche Menschen ohne einen messbaren Defekt an der Wirbelsäule, an den Knochen, Muskeln, Nerven und Gelenken chronische, nicht beherrschbare Kreuzschmerzen haben, während bei anderen, mit einem deutlich sichtbaren Defekt, dieser keine nenneswerten Schmerzen nach sich zieht. Wenn aber nichts defekt ist, hat der Schmerz seine Warnfunktion verloren und erscheint sinnlos.

Mentale Aspekte, wie das unangenehme bis unerträgliche Schmerzgefühl, hängen offenbar nicht nur von den Genen sondern auch von den Umständen ab, in denen wir Schmerz bewusst erleben. So ist es sinnvoll, zunächst die Empfindung  von der Wahrnehmung  abzugrenzen. Was wir empfinden, sind die unscharfen und mehrdeutigen Informationen der inneren Körperwelt und äusseren Umwelt, die über die Reizleitungen unserer Sinnesorgane zu den entsprechenden Arealen im Gehirn gelangen und dort als unspezifisches Gefühl bewusst erscheinen.
Was wir wahrnehmen, ist viel umfassender: es ist ein Bild, das all diese unscharfen Signale, die unser Gehirn von drinnen oder draußen erhält, mit dem Reichtum vergangener Erfahrung und Erlebnissen verknüpft. Darüber hinaus ist es sogar der gesamte Körper, der wahrnimmt !  ahnen diejenigen, die Dysfunktionen am eigenen Leibe hier und jetzt miterleben. Auf welcher Ebene auch immer diese Prozesse analog, wie eine parallele Verschaltung, ablaufen: zwischen den Organen, den Geweben, den Zellen, den Molekülen, den Atomen oder akausalen Verschränkungen.

Höre genau zu, was der Geplagte dir erzählt, sagen die Gewieften, ...aber hör' nicht hin. Wahrheit gibt es nur zu zweien. Damit wir in der täglichen Praxis hinreichend von gleichartigen Eindrücken reden, sind zwei Denkrichtungen hilfreich: die sog. bottom up Wahrnehmung geht vom kleinen Detail aufwärts zum großen Ganzen und erlaubt uns von Geburt an, Schlüsselelemente wie Linien, Konturen und drohende Gefahren aus der Umwelt zu filtern. Wenn es Neues gibt, ergänzen Nervenzellen im Gehirn die unvollständigen Informationen aus der Umwelt, zum einen mit den ererbten Basisgefühlen und zum anderen mit den erworbenen Erfahrungen, zu einem Bild des Geschehens, das in die Wirklichkeit passt. Und manchmal passt es eben nicht so ganz.
Die Top down Wahrnehmung dagegen greift von oben herab tief in den Topf der Vorerfahrungen und holt zielsicher, augenblicklich, auf einen Schlag und aufmerksam all das bisher Erlernte, vielleicht Verdrängte, manch Gutes, aber vorsorglich mehr Böses, heraus und stellt damit ein zwar übertriebenes, aber persönlich produziertes Kopffilmchen her. So entstehen hier und jetzt bei unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Bedeutungen des gleichen Sachverhalts.
Deshalb erfolgt die Diagnostik jeder schmerzhaften oder unempfindlichen Bewegungsstörung (natürlich neben der möglichst genauen Schilderung des Beschwerdeverlaufs, seit wann, was, wo und wie sich bemerkbar macht) grundsätzlich, unstrittig und vorrangig durch gezielte manualmedizinsche Bewegungstests sowie palpatorische Prüfung der Gewebebeschaffenheit. 

Dichter dran, bleibt der ärztliche Tastsinn das aufmerksamste diagnostische Mittel, um sich ein schlüssiges Bild von der Bewegungshemmung im Muskelskelett zu machen, das Risiko von Fehleinschätzungen zu mindern und positiv rückkoppelnd einzugreifen. Seine Empfindlichkeit und Energie verfeinert sich durch stetigen Gebrauch. 
Angedockt an die Erfahrung eines ganzen Beruflebens erhält die geschulte Hand ihre Urteilskraft zurück. Erst wenn die Fehlspannung bleibt oder der Schmerz zunimmt, kommen bildgebende Verfahren zum Einsatz. Nicht umgekehrt, sonst wird es schwierig, aus der Opferrolle eines eher harmlosen, altersgemäßen Befundes herauszukommen.

Der Mutterwitz jeder Therapie ist, Geschichten neu zu erzählen. Um zu zeigen, dass Dysfunktionen verstanden werden und die Antworten ihn in die Lage versetzen, sich neu anzupassen. Denn Heilung ist immer und grundsätzlich Selbstheilung. Der Arzt kann nur neue Randbedingungen schaffen, mit denen Selbstregulation mustergültig gelingt. Eingriffe mit der Hand sind physisch Vehikel für Informationen und verändern damit die Rezeptoren lebender Organismen, deren Gewebe und Zellaktivität. Ihre mentalen Reaktionen auf diese Einwirkungen werden nicht nur von einer mechanischen Reizung, sondern auch davon bestimmt, das Zeichen und Symbole eine Ursache-Wirkung-Beziehung haben, indem sie Handlungen auslösen und Bedeutungen vermitteln. Um die Prognose des Reizzustandes zu ändern, braucht es einen Ort, wo Heilung mit Transduktion undTransformation  erneut gelingt. Wenn alles still ist, passiert am meisten. Das Gehirn empfängt die Signale, macht daraus Vorhersagen, hat ohne Dirigenten oder Lehrer gelernt mit Fehlanpassung umzugehen und bildet sich ständig mit dem nächsten Input um.

Hat allerdings die durch die myofasciale Dysfunktion ausgelöste feingewebliche Entzündung der tieferen Strukturen ein chronisch sensitives Ausmaß angenommen, das der Organismus nicht mehr selbst bewältigen kann, müssen mehrere, modale Therapieformen angesetzt werden, welche die hartnäckige Entzündung mit ihrem bindegewebigen Flächenbrand eindämmen sowie das Immunverhalten regulieren und das vegetative Nervensystem desensitivieren können. Denn chronischer Stress kann auch Entzündung auslösen und damit die Steifigkeit ( Fibrose ) der Faszien erhöhen.

Niemand wird in andere Leute hineinsehen können, ihre biologische Zellwelt aus Molekülen und Atomen bei dem permanenten Austausch von Informationen betrachten und dabei mitempfinden, wie es ist, ein Gehirn, ein Knie, ein Wirbelsegment oder ein Organ zu sein . Wir haben weder für den ausstrahlenden Schmerz, noch für örtlich ziehende Mißempfindungen erkennbare Biomarker, aufgrund derer wir eine Diagnose oder die Prognose der krankhaften Bewegungsstörungen veränderen und damit den langfristigen Einsatz zentral modulierender Medikamente rechtfertigen können. Wahrscheinlich gibt es auch keine zusätzlich erfahrbaren Kriterien, die helfen, den Schmerz richtig einzuordnen, wenn zwar strukturspezifische Schäden am Muskelskelett durch Schichtbilder, Laborchemie oder Meswerte vorliegen, jedoch der spezifische Auslöser nicht eindeutig isoliert und zusätzlich beschreibbar ist.
Aus jeder forschenden Perspektive erkennt der Beobachter nur Symptome, Zeichen oder den Zustand somato-psychischer Reaktionen, wie asymmetrische Gewebespannung, empfindlichen Bewegungsverlust, angestrengtes Vermeidungsverhalten und die ödematöse oder rigide Gewebetrophik, welche für einen bestimmten unregulierten Zustand des gesamten  Menschen verantwortlich sind.
Das Einzige, wofür wir Mediziner ein wenig Evidenz haben, ist der Schmerzmechanismus.
Dabei unterscheiden wir in nozizeptive, noziplastische und neuropathische  Mechanismen.
Die nozizeptive  Beschwerde ist eine Reaktion auf einen Reiz im peripheren Gewebe, der dort die feinen Nervenenden, die sog.  Nozizeptoren, aktiviert. Das kann stündlich durch Zug und Druck, Entzündung oder Hitze und Kälte passieren und als stumpf, stechend, bohrend oder pochend empfunden werden. Die Nerven sind dabei nicht defekt, sondern im Gegenteil, hoch intakt. Dieses Geschehen neigt stark zur Chronifizierung und übermäßige Schmerzempfindung, die sog. Sensitivierung, läßt schon banale Reize im Alltag zum vollen Beschwerdebild durchsickern. Das kann im Gewebe außerhalb von Rückenmark oder Gehirnzellen stattfinden (periphere Sensitivierung). Aber auch innerhalb, dann spricht man von zentraler Sensitivierung.
Liegt eine Verstärkung, Überempfindlichkeit oder schlecht-angepasste Reiz-Verarbeitung vor ( Hyperalgesie ), welche zu erhöhter Erregbarkeit der Signalübertragung im zentralen Nervensystem und damit zum Fortbestehen der Schmerzempfindung beiträgt, haben wir es mit sog. noziplastischen  Symptomatik zu tun.
Als „neuropathisch“ werden dagegen Schmerzen sowie schwer beschreibbare Missempfindungen bezeichnet, die nicht durch Reaktion von äußeren Reizen im Gewebe, sondern als direkte Folge von Schädigung in den Nerven selbst entstanden sind. Etwa durch Unterbrechung oder Kompression der Nervenstränge oder durch Fehlfunktion der Nervenzellen im Rückenmark oder Gehirn, von welcher Stoffwechselerkrankung her auch immer ( Diabetes, Alkohol, Gendefekt, Viren etc).
Kribbeln, Brennen und Taubheit bis zu den Händen und Füssen stehen im Vordergrund. Bis auf die erfahrungsgemäße Annahme aus fachspezifischer Einschätzung hat bisher keine Untersuchung den Verdacht auf neuropathisches Geschehen bei Rücken- und Beinschmerzen hinreichend evident begründen können. Möglicherweise gibt es auch keine einzeln darstellbaren Parameter für Nervenschädigung, Fehlfunktion oder Entzündung, weil die Prozesse emergent, vernetzt, kooperativ, konnektiv oder anders komplex verlaufen. Allerdings kann ein visueller Ausdruck oder auf den peripheren Nervensträngen abgeleiteter Befund letztendlich als Beweis für eine neuropathische Symptomatik gelten und damit auch zentral stark wirksame Medikation begründen.

Unabhängig vom jeweiligen Mechanismus, der häufig als Mischbild in Erscheinung tritt, ist allgemein bekannt, dass bei einigen Medikamenten eine übermäßige Dosierung zu einer Verschlechterung der Symptome führt, die normalerweise als Reaktion auf die Medikation auftreten. Was wiederum zu einer Zunahme der eigentlich zu behandelnden Beschwerden führen kann. Das passiert nicht selten bei Langzeitbehandlungen, denn der Organismus ist schlau, will evolutionär überleben und entwickelt diverse Gegenmaßnahmen und Umleitungen.

 

Myofasciale Dysfunktion können Ursache und Folge zugleich sein. Leute von heute betrachten im Praxisalltag die gereizten Gelenke längst nicht mehr isoliert, sondern als Teil einer komplexen Nerven-Gefäß-Muskel-Faszien-Bänder-Kapsel-Organ-Funktion. Die spezifischen Krankheiten der Nerven, Muskeln, Gefässe oder Gelenke sind den Fachleuten bestens bekannt, aber die Rolle der bindegewebigen Hüllen weniger. Schon die normale Kraftübertragung passiert nicht nur über Muskeln und deren Bänder an das Gelenk, sondern auch lückenlos zwischen bindegewebigen Segmenten sowie quer zu gegenläufig arbeitenden Muskelsträngen. Faszien sind Teil des Bindegewebes, liegen einerseits wie ein Neoprenanzug oberflächlich unter der Haut, bilden andererseits spannende Brücken zwischen den Gelenken und verbinden Muskeln und Organe durch feine Hüllen. Ihr Stellungsspiel ist noch ungeklärt, kann gern auf benachbarte Felder übergreifen, Bänder, Sehnen und Gelenkkapseln verstärken, schädlichen Druck und Zug auslösen, die Schmerzchemie unangenehm aktivieren und von Kopf bis Fuß fühlbar durchsickern. Deren spürbare Auslöser sind verzogene Wirbelsegmente und ihre folgenreiche Verkettung mit entfernteren Muskeln, deren saurer und blutarmer Umgebung sowie die Freisetzung von entzündlicher Schmerzchemie in den bindegewebigen Schichten. Die schlechte örtliche Bestimmung, die starke Tendenz zur selbstgesetzten Übertragung und das reißende, krampfende oder drückende Temperament ist oft in Ruhe schwer zu ertragen.
 

Im Vordergrund der Therapie von myofascial inflammatorischen Schmerzsyndromen und ihrer chronifizierten Befunde stehen deshalb und unbestritten passive manuelle Techniken der übererregten Beugesysteme und Mobilisation der bindegewebigen Schichten vom Wirbelsegmenten bis zu den letzten Gelenken in der Kette mit den Folgen für den Sauerstoffwechsel im peripheren Gewebe. Natürlich unterstützt von allerlei aktiven Bewegungsformen im geschlossenen Bewegungskreis, in dem sich der Organismus wie von selbst regulieren kann. Denn die Muskeln sind nicht schwach, sondern krank, weil asymmetrisch gehemmt und erregt. Wer immer noch meint, Schmerz sei Bitten er Muskelzelle um reine Kraft, wird abgeholt.
Kontinuierliches, zügiges Gehen ist schon der erste Schritt für eine Verbesserung der Aufrichtung der Wirbelsäulensegmente und der Sauerstoffzufuhr durch Kraft-Ausdauer-Leistungen. Höher, schneller und weiter kann, gern unter Last, im offenen Bewegungskreis danach folgen und wird, regelmäßig unternommen, ebenfalls Einfluss auf das Ess-und Stressverhalten nehmen. Bei reinem Maximal-Krafttraining am steuernden Gerät, was oft empfohlen wird, ändert sich nur die Schmerzwahrnehmung und man passt sich an die Geräte an, an sonst gar nichts. An der fremd führenden Kraftmaschine geht es zu wie bei stark wirksamen Medikamenten: Die Zellen mögen keinen Kampf, sie möchten überredet werden.
 

Das ist jetzt schwer zu verstehen, denn wir sind Ursachen gewohnt, möchten Lösungen haben und nicht Teil des Problems sein.