Das Bild ist bunt. Gefangen in unserer zentralen Fähigkeit zu Hemmung, Erregung und Erstarrung führt das Muskelskelett gern ein sinnloses Eigenleben. Wenn kein frischer Schaden erkennbar ist, reichen einfache Ursache-Wirkung-Überlegungen nicht aus, um das typische, dumpf bohrende oder hell stechende Gefühl im Arm, Bein oder Kreuz sinnvoll zu erklären. Diese wiederholt aus dem Nichts auftauchende Nervensäge zieht gern um und tut nur so, als ob ein Nerv, ein Gelenk oder ein Organ geschädigt sei. Der Spannungsstau zeigt sein Schmerzgesicht mal als Folge, mal als Ursache, morgens anders als abends, im Liegen mehr als beim Laufen, im Stehen weniger als im Sitzen und im Training anders als in Trance. Man kann nicht wissen, wo es zwischendurch war. Die schlechte örtliche Bestimmung, die starke Tendenz zur Übertragung und das reissende, krampfende oder drückende Temperament ist in Ruhe oft schwer zu ertragen.
Nach bisher herrschendem Sinnfeld folgen orthopädische Beschwerden gern dem mechanischen Körperbild von einem Bewegungsapparat, dessen Gelenke nach Kräften von Muskeln geführt werden. Welche jedoch, neben altersbedingter Abnutzung, im modernen Lebensstil mit mangelhaften oder monotonen Bewegungen ziemlich schwach oder überlastet seien. Tatsächlich steuern Muskeln zum Teil langsam, logisch, bewusst, synchron, konzentriert, konzertiert und negativ rückkoppelnd, wenn man will und nicht gerade schläft, erschöpft, verwirrt oder verzogen ist.
Wenn etwas nicht stimmt, werden Muskeln nicht schwach, sondern verstört. Denn schnell verkörpert sich mancher Schrecken, selbsttätig, reflexartig, unwillkürlich, unbewusst, unbeachtet, und positiv rückkoppelnd, zeitweise dysfunktionell und kokontraktiv hochreguliert.
Viele Gelenke sind tatsächlich nicht mehr so frei beweglich wie zuvor, aber noch völlig intakt. Nur durch verschreckte Muskeln, verzerrte Hüllen, feine Entzündungen, saures Milieu, gedrosselte Blutzufuhr und falsche Vorstellungen asymmetrisch verzogen, membranös verspannt, vielschichtig verklebt und letztlich fibrös versteift.
Dem gesamten Muskel-Faszien-Skelett werden wichtige Aufgaben, sowohl für die motorische Bewegung im Raum, als auch für die zeitlich sichernde Schonstellung nach tatsächlichen, aber auch vermeintlichen Schadreizen zugeschrieben ( myofasziale Funktion ). Natürlich zieht in einer schwachen Phase jeder Fehltritt, manch ungeschickte Verrenkung, zuviel Zug und ständiger Druck ein Gelenk zunächst aus seiner Position. Aber auch zahlreiche Stressoren, überschiessende Immunantworten, entgleiste Hormone, verdeckte Entzündungen, feinste Partikel, fremde Eindringlinge, linke Bazillen, olle Kamellen, steile Zähne, geronnene Geschichten, ewige Sorgen, heiße Luft oder Irrtum von oben, bzw. Schwierigkeiten mit der Spannung darüber schmerzfrei umzugehen, können verwirren und reflexartige Schutzreaktionen im Muskelskelett in Gang setzen, chronisch unterhalten, übernormal verstärken, in entfernte Zonen verbreiten und einen leicht entzündlichen Flächenbrand im Bindegewebe entfachen ( myofasciale Dysfunktion ). Damit dient das Muskelskelett nicht als Basis, sondern trägt alles, was wir unterwegs am eigenen Leibe erfahren, vernetzt mit sich herum.
Reizbegabt und übersät von feinsten Nervenenden, kommt der Mensch als aufrecht gehendes Sinnesgebilde daher. Zeitweise tiefenverspannt, sauer und entzündlich bis zum Kontrollverlust gereizt, " dem Ding da ", der entgleisten Maschine mit seinen Knochen und Gelenken eine sinnvolle Bedeutung zu geben: Nimm' mich mit, ...ich gebe Dir doch die Form ! scheint das Skelett zu bitten.
Nein, nur Struktur. Je weiter man sein Wissen vortastend vertieft, desto mehr wird man sich von einer mechanischen Sicht als einem Skelett mit darin hängenden Organen und führenden Muskeln lösen und zu einer Sicht des Körpers als einem stets informierten Organismus mit einem Skelett darin kommen. Es gibt nichts mechanisch Starres im Leben, das nach festen Regeln funktioniert. Alles, was im Lebendigen geschieht, beruht auf den Informationen von Sinnesreizen und seinen Feinheiten. Das, was wir wahrnehmen, tun oder unterlassen, wird auf Nerven bestimmt, welche durch die Umgebungsreize ausgebildet wurden. Um in Form zu bleiben, braucht jeder Mensch mit seinen Organen, Geweben, Zellen, Molekülen und deren Atomen feine Reize, die über Veränderungen in uns und um uns herum informieren. Diese Signale lösen biochemische Kaskaden aus, welche zu einer Reaktion, wie Bewegung, Stoffwechsel oder Zellteilung, führen. Jede kleine Änderung des inneren oder äusseren Milieus gilt bereits als Stimulus, wenn diese irgendeine Reizantwort hervorruft. Um in jeder Sekunde eine gesunde Funktion zu schaffen. Komme, was da wolle.
Die Welt ist offen und niemand bleibt der, der er ist. Wenn es Neues gibt, muss man Anpassungen leisten. Und manchmal passt es nicht so ganz. Oft entstehen Schmerzreaktionen als Ausdruck vergeblicher Bemühuungen.
Lautlos, zudem mit beiden Armen des vegetativen Nervensystems gut vernetzt, versucht der gesamte Organismus ständig, Störungen im Fliessgleichgewicht seiner Funktionen durch gegenläufige Reaktionen bestmöglich auszugleichen ( Homöostase ).
Auch neuronale Netzwerke, die Schmerzreize verschalten, lernen schnell und speichern Muster, um stets bereit für ähnliche Situationen in einem veränderten Umfeld zu sein ( Plastizität ). Sogar Verletzungen, Krankheiten und andere empfindlichen Störungen können sich erholen, weil Körpersysteme darauf ausgelegt sind, sich selbsttätig zu regulieren und in einen stabilen Zustand zurückzukehren ( Resilienz ).
Diese Fähigkeiten des Organismus, sich individuell, also jeder für sich in seinem Tempo, an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen, sind längst akzeptiert und als eine Funktion zu verstehen, die sich jederzeit zum Überleben mit unserer Umwelt abstimmt.
Dem jedem geläufigen, aber vielseitig gedeuteten Phänomen " Schmerz " als einer subjektiven Wahrnehmnung wird biologisch die Nozizeption gegenübergestellt. Unter Noziception versteht man alle Vorgänge auf den Nervenbahnen, welche der tatsächlichen oder nur drohenden Erkennung von biochemischen, mechanischen und temperaturbedingten Schadreizen dienen, sowie die Einleitung von Schmerzreaktionen im Muskelskelett bewirken. Feine Nervenden in oberflächlichen Hüllen und tiefen Übergängen des Bewegungsgerüstes bilden ein Frühwarnsystem, das in manchem Augenblick gern schreckhaft erstarrt. Die auf Erregung spezialisierten Schmerzfühler senden nach Umschaltung im Rückenmark ihre Impulse zentral an das Gehirn und lösen von dort sowohl Schmerzempfinden, als auch reflexartige Reaktionen aus. Wirbelblockaden, Gelenksteife, Muskelstarre, Spannungsketten und entzündliche Gewebebarrieren, die sich in Ruhe einfach nicht gut anfühlen ( myofasciale Dysfunktionen ), sind unzertrennlich mit reizvollen Lebensgeschichten verbunden. Davon gibt es so viele, wie es Augenblicke gibt.
Einerseits macht nicht jeder Schreck einen Abwehrreflex. Andererseits bremst schon die Erwartung von Schmerz die Schmerzhemmung ab. Zudem reagiert der Organismus nicht sofort auf einen Reiz, sondern probiert und reflektiert aus seinen Erfahrungen heraus.
Es ist wichtig zu unterscheiden, dass die Signale aus dem äußeren Muskelskelett lediglich einen Teil der Sensationen im Gehirn verursachen, um den Kontakt zur Außenwelt zu unterhalten. Informationen über die innere Welt, welche die Weisheit des Körpers begründen, wie von selbst seine inneren Organe zu anzuregen, aufzuregen und anzupassen, werden nicht durch die für Berührung, Druck, Kälte, Hitze und Schmerz zuständigen Sensoren weitergeleitet. Nur nachrangig davon vermag der Gewebeschmerz in einen Organschmerz übergehen, sich parallel über strukturelle Grenzen hinweg ausbreiten oder sich zirkulär selbst erneuern.
Die auf feinen Nerven aus diversen Gewebsschichten eingehenden tatsächlichen oder vermeintlichen Sensationen werden oft schlimmer erlebt, je mehr wir uns ungehemmt darüber erregen. Die Wahrnehmung des Reizzustandes geschieht jeweils mit dem individuellen Grad der Sensitivierung. Damit ist die erhöhte Empfindlichkeit für Schmerzreize gemeint, wodurch Schmerz intensiver empfunden oder sogar ohne klar auslösenden Reiz wahrgenommen werden kann.
Die periphere Sensitivierung bezeichnet eine gesteigerte Aktivität der feinen Nervenenden im peripheren Gewebe durch bereits abgelaufene Entzündungen, geheilte Verletzungen oder alte Gewebeschäden. Diese Nociceptoren reagieren dann schon auf Berührungen, Bewegungen oder Kontakte, die normalerweise keinen oder nur minimalen Schmerz auslösen würden.
Die zentrale Sensitivierung bezieht sich dagegen auf Veränderungen in Nerven des Rückenmarks und Gehirns, sodass es dadurch zu einem verstärkten Schmerzerlebnis kommt, auch wenn der ursprüngliche Auslöser nicht mehr vorhanden ist. Das führt dazu, dass das Schmerzerleben länger andauert oder intensiver ist, als es normalerweise so wäre: schwache oder banale Alltagsreize werden als stark empfunden ( Hyperalgesie ) oder leichte Kontakte und Bewegungen werden als Schmerz interpretiert ( Allodynie ). Die Sensitivierung ist also ein Schlüsselmechanismus bei der Chronifizierung von Schmerz und zeigt die Plastizität des Nervensystems, das sich schnell an wiederholte Reize anpassen kann. Die Sensitivierung verdeutlicht aber auch, wie das homöostatische Gleichgewicht durch anhaltende Schmerzen gestört werden, aber sich trotzdem resilient erholen und zur normalen Schmerzlinderung zurückkehren kann.
Da unabhängig von diesen biologischen Mechanismen Emotionen, Stress und erfahrungsbasiertes Verhalten auf die Verarbeitung und Wahrnehmung von Schmerz beobachtet wird und die Auswirkungen des sozialen Umfelds, die Arbeitssituation und kulturelle Faktoren ebenfalls eine entscheidende Rolle auf das Schmerzerleben haben kann, wird das bio-psycho-soziale Modell der modernen Auffassung des Menschen als adaptives System hinzugefügt.
Aus dieser Einsicht findet alles, was Menschen sonst noch so in ihrer Einheit aus Nervenkostüm, Hormonorchester und Immunabwehr mit Selbstbewusstsein betreiben, seine Ausdrucksform im Muskelskelett. Dort, wo der Zufall stark wirkt und empfindliche Gewebestörungen erscheinen, die von Sinnesleistungen in Gang gesetzt und durch autonome Nerven unterhalten werden. Man muss sich von sich so einiges von sich gefallen lassen.
Für den Stress, den der Körper mit seinem Inhaber hat, fehlen noch die Worte. Aber das tiefe Verständnis der Entstehung von schmerzbedingten Schutzreaktionen ( noziceptive Dysfunktion ), der zentralnervösen Schmerzverarbeitung ( noziplastische Sensitivierung ) und der feingeweblichen Entzündung ( nocigene Inflammation ) hat Diagnose und Therapie von muskuloskeletalen Beschwerden bereits enorm verändert.
Seit jeh ist es Brauchtum der Funktionäre, Leitlinien zu erfinden. Funktionsstörungen als diagnostisch krankhaft und symptomatisch klar abgrenzbare Einheit ( Entität ) zu erklären, ist nicht einfach. Aber funktionell sind Störungen immer dann, wenn sie räumlich nicht Ausdruck einer Schädigung von Gelenken, Segmenten, Organen, Muskeln oder Nerven, aber zeitlich so ähnlich auf dem Weg dahin sind.
Der Begriff „ myofasciale Dysfunktion „ wurde von den Fachgesellschaften, welche sich mit den Beschwerden am Muskelskelett befassen ( Neurologen, Chirurgen, Orthopäden, Rheumatologen, Psychologen ), vor einigen Jahren in den Leitlinien zur Behandlung spezifischer Beschwerden an der Wirbelsäule eingeführt (www.register.awmf.org ), nachdem dort schon strukturelle Defekte, wie neurologische Nervenschäden, degenerative Gelenkschäden, verengende Wirbelsegment-Schäden, rheumatische Immunschäden und angeborene Fehlstellungen mit den jeweiligen Therapieoptionen rezeptiert wurden.
Und nachdem die amerikanische osteopathische Medizin die schmerzhaften Funktionsstörungen am Muskelskelett bereits traditionell als „somatic dysfunktion“ bezeichnet hatten, wenn kein Schaden erkennbar, aber das Gewebe fühlbar empfindlich, asymmetrisch verzogen, restrikt und entzündlich verändert erschien.
Und es auch hierzulande langsam dämmerte, dass die bindegewebigen Hüllen der Muskeln und Organe kein träges Gewebe, sondern das körpereigene Fasziennetz wahrscheinlich unser reichhaltigstes Sinnesorgan mit mehreren hundert Millionen feinster Nervenenden ist.
Und spürbar mit dem vegetativen Nervensystem und dessen Regulation von Muskelspannung und Blutstrom sowie mit dem Immunsystem und der Dosierung von Entzündungsreaktionen, im unentwegten Austausch von Informationen über den Zustand des Milieus steht.
Und weil die Idee, dass nicht nur das Gehirn, sondern auch der gesamte Organismus sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit umformen, im Einklang steht mit dem Konzept von Homöostase, Plastizität und Resilienz. Und weil es meist nicht darum geht, einen Schaden zu reparieren, sondern die Barrieren, die den Organismus daran hindern, sich von Störungen zu erholen und wieder ins Gleichgewicht kommen, evident zu beseitigen .
Während gute Gefühle anzeigen, dass alle zum Überleben notwendigen Organfunktionen wieder auf das Vorsorglichste hinreguliert sind, drücken sich Dysfunktionen in Organen, Gefässen und Gelenken in Form von schlechten Gefühlen über mangelhafte oder festgefahrene Regulation aus. Schon deshalb wird Schmerz im Muskelskelett ( myofascial ) zum schwierigen Kapitel.
Denn das unangenehme Gefühl ist nicht der Körper, es teilt sich mit ihm nur das Lokal: einerseits ist der Reizverkehr im Netzwerk der Nerven ein physikalischer Vorgang, dessen Spur von den Geweben über das Rückenmark verschaltet bis tief in Gehirnwindungen hinein mit teuren Geräten objektiv beobachtbar ist ( physiologische Matrix ).
Andererseits ist Schmerzempfinden ein subjektiver Beweggrund, denn niemand anders als man selbst kann wissen, wie es ist, wenn dauernd ein böse stechendes Ziehen im Rücken erscheint ( Phänomenales Bewusstsein ). In beiden Aspekten kommt es auf die Perspektive des Beobachters an, bekanntlich gibt es keinen Blick von nirgendwo. Es hat aber noch nie jemand gesehen, wie ein physikalischer Reiz als Botenstoff verkleidet in das Seelenleben hüpft und von dort genervt wieder zurückspringt. Trotzdem sind Gefühle ästhetische Tatsachen die uns bewegen, um heil durch den Alltag zu kommen. Wir gehen nämlich zum Arzt, weil uns unangenehm zumute ist und nicht, weil uns ein materiell-energetischer Reiz auf die Nerven geht.
Dort kann man sich drehen und wenden wie man will: nur selten ist der unangenehm raumgreifende Schmerzreiz eindeutig auf eine bildtechnisch erkennbar defekte Struktur wie Bandscheibe, Stenose, Arthose oder Tumor zu reduzieren. Bei mehr als 80 % der Beschwerden am Muskelskelett finden sich einfach keine erkennbaren Auslöser. Obwohl wir mit dem heute jederzeit verfügbaren Arsenal medizinischer Geräte kaum noch jemanden finden, der völlig gesund ist. Seröse Studien zeigen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung siginifikante Bandscheibenvorfälle und Verschleisserscheinungen an den Wirbelsegmenten zeigen, ohne Rückenschmerz oder andere Symptome zu haben. Schon bei den 30-Jährigen weist jeder Dritte auf Kernspin Befunden Bandscheibenvorfälle auf, bei den 50-Jährigen sind es bereits 60 % und bei den 80-Jährigen nahezu 90 %. Die Gefahr, dass harmlose Befund als ernsthafte Probleme interpretiert werden und zu unnötigen, risikoreichen und teuren Behandlungen führen, die keine nachhaltige Verbesserung der Beschwerden bewirken, ist evident. Deshalb weist die Deutsche Gesellschaft für Wirbelsäulenchirurgie ausdrücklich darauf hin, dass 80 % der radiologischen Befunde nichts mit den Symptomen der Patienten zu tun haben. Offenbar hat die starke Tendenz, bildgebende Verfahren als diagnostische Grundlage zu nutzen, dazu geführt, dass diese leicht zugänglichen Verfahren als objektive und endgültige Beurteilung des Problems betrachtet werden.
In der Einsicht wird klar, was Schmerz am reifen Muskelskelett, " dem Bewegungsapparat da ", meistens nicht ist: die Wirkung von sichtbaren Schäden und schwachen Muskeln. Was in jungen Jahren davon als krank gilt, hat später den Krankheitswert von grauen Haaren: ein funktionierender Umbau, der Altersschäden kompensiert. Das kann gut oder schlecht für uns ausgehen, wenn versucht wird, den alten Zustand wieder herstellen zu wollen, anstatt Barrieren zu suchen, die den Organismus daran hindern, sich selbst zu regulieren. Jedenfalls müssen wir die Irrwege der Vergangenheit, mit übermässiger Betonung der Reizübergänge an den Ecken und Kanten des Gerüsts ( Arthrose, Stenose, Bandscheibe, Meniskus, Fersensporn, Schleimbeutel, Verkalkung uvm. ), nicht nocheinmal gehen.
Das ist schwer zu verstehen, denn wir sind Ursachen gewohnt, möchten Lösungen haben und nicht Teil des Problems sein.
Geht es um den Rücken, stimmt also mit hoher Wahrscheinlichkeit das künstlich zusammengesetzte Modell eines durch Verschleiß geschädigten und durch schwache Muskeln mangelhaft gestützt, gedämpft und geführten Bewegungsapparates nicht. Wer immer noch annimmt, das sonst so erfolgreiche mechanistische Atom-Bild des " in Stücke schneiden der Welt der Körper " mit den Methoden der Naturwissenschaft erkläre den gemeinen Rückenschmerz, irrt, weil er irren will. Schon das, was man sieht, ist kein Vorfall oder Verschleiss. Es ist nur das reglose Bild, das man davon hat. Kein Mensch verschleisst, sondern bildet sich nur nicht mehr vollständig um. Auch ein Muskel, der schmerzt, ist nicht schwach, sondern krank. Weder die unzähligen Schadreize durch mechanisch, thermisch oder chemisch erregte feine Nervenenden, noch die daraus entstehenden Bewegungskonflikte oder die empfindliche Reaktion der bindegewebigen Hüllen werden von den künstlichen Magnetspulen, Impulsrechnern und Graphikkarten hinreichend lebensnah erfasst.
Das zirkuläre Ursache-Wirkung-Spiel zwischen Wirbelblockade und segmentaler Dysfunktion, zwischen Schmerzerleben und Spannungsverstärkung, bleibt gänzlich unerkannt. Aber nur einmal im Bild bestätigt, fällt es schwer, aus der Opferrolle moderner bildgebender Technologien wieder herauszukommen.
Obwohl die wissenschaftliche Methode, jegliches Gefühl und jeden Gedanken der daraus entsteht, von körperlich ausgedehnter Masse zu trennen, für den medizinischen Fortschritt immer noch höchst erfolgreich ist. Keine Prothese, keine Impfung, keine Krebsbehandlung und kein intelligent hergestelltes Medikament ohne diese duale Historie. Man kann handeln und modern sein, indem die Technik verfeinert wird, ohne die mechanische Erklärung der Lebensvorgänge aufgeben zu müssen. Der leise Hinweis, ob womöglich die geschlossene Struktur einer Maschine mit einer starren Ordnung verwechselt wurde, die offen auf Reize reagiert, welche dem Beobachter verborgen sind, wurde lange übergangen. Die Zerlegung des Menschen in seine Einzelteile und das Verstehen des Vorgangs hinter dem Vorgang, kann inzwischen auch komplexe Netzwerke, kollektives Verhalten, chaotische Konnektionen, kritische Kipppunkte und coole Krisen auf höheren Ebenen systematisch und informatisch erklären. Auch die Zuweisung von Bedeutung, zum Beispiel eine drohende Gefahr durch Gewebeschaden zu registrieren, ist durch das plastische Streben zum Lernen und Mustererkennung ein wichtiger Akt vorsorglicher Anpassung. Weil dieser die Fähigkeit umfasst, körperliche Informationen aus der Umwelt zu verstehen, zu interpretieren und ihnen einen Wert zu geben.
Leider haben wir für die Störung der Funktionen im Muskelskelett, der myofaszialen Dysfunktion, keine erkennbaren Biomarker, aufgrund derer wir die Prognose der Bewegungskrankheit verändern und stark wirksame Medikamente, riskante Eingriffe oder teure Methoden rechtfertigen können. Wahrscheinlich gibt es auch keine zusätzlich erfahrbaren Kriterien, die helfen, den stark zur Chronifizierung neigenden Schmerz richtig einzuordnen, wenn zwar durch Schichtbilder oder Laborchemie messbare Strukturschäden am Muskelskelett vorliegen, jedoch der spezifische Auslöser nicht eindeutig isoliert und zusätzlich beschreibbar ist. Die einzigen Marker die ein wenig Evidenz zeigen, sind das Schmerzgefühl und die Gewebetrophik.
Im Schmerzmechanismus unterscheiden wir in nozizeptive, noziplastische und neuropathische Mechanismen. Die nozizeptive Beschwerde ist eine Reaktion auf einen Reiz im peripheren Gewebe, der dort die feinen Nervenenden, die sog. Nozizeptoren, aktiviert. Das kann stündlich durch Zug und Druck, Entzündung oder Hitze und Kälte passieren und als stumpf, stechend, bohrend oder pochend empfunden werden. Die Nerven sind dabei nicht defekt, sondern im Gegenteil, hoch intakt. Dieses Geschehen neigt stark zur Chronifizierung und übermäßiger Schmerzempfindung ( Sensitivierung ), wodurch schon banale Reize im Alltag zum vollen Beschwerdebild durchsickern. Das kann im Gewebe außerhalb von Rückenmark stattfinden ( periphere Sensitivierung). Aber auch innerhalb von Rückenmark und Gehirnzellen, dann spricht man von zentraler Sensitivierung.
Liegt eine Verstärkung, Überempfindlichkeit oder schlecht-angepasste Reiz-Verarbeitung vor ( Hyperalgesie ), welche zu erhöhter Erregbarkeit der Signalübertragung im zentralen Nervensystem und damit zum Fortbestehen der Schmerzempfindung beiträgt, haben wir es mit sog. noziplastischen Symptomatik zu tun. Meistens geht dieser gestörten zentralen Reizverarbeitung des nociplastischen Schmerzverhaltens eine klar definierte mechanische, chemische oder thermische Reizübertragung an den peripheren Nervenenden, den Nociceptoren, voraus.
Dagegen werden Schmerzen oder schwer beschreibbare Missempfindungen als „neuropathisch“ bezeichnet, welche nicht durch Reaktion von äußeren Reizen im Gewebe, sondern als direkte Folge von Schädigung in den Nerven selbst entstanden sind. Etwa durch Unterbrechung oder Kompression der Nervenstränge oder durch Fehlfunktion der Nervenzellen im Rückenmark oder Gehirn, von welcher Stoffwechselerkrankung her auch immer ( Diabetes, Alkohol, Gendefekt, Viren, Medikamente etc).
Kribbeln, Brennen und Taubheit bis zu den Händen und Füssen stehen im Vordergrund. Bis auf die fachspezifische Einschätzung aus praktischer Erfahrung hat bisher keine spezifische Untersuchung den Verdacht auf neuropathisches Geschehen bei Rücken- und Beinschmerzen hinreichend evident begründen können. Möglicherweise gibt es auch keine einzeln darstellbaren Parameter für Nervenschädigung, Fehlfunktion oder Entzündung, weil die Prozesse emergent, vernetzt, kooperativ, konnektiv oder anders komplex verlaufen. Allerdings kann ein visueller Ausdruck oder auf den peripheren Nervensträngen abgeleiteter Befund letztendlich als Beweis für eine neuropathische Symptomatik gelten und damit auch zentral stark wirksame Medikation begründen.
Sogar für Fachleute die ihr Handwerk fachübergreifend verstehen, ist es schwierig, den motorisch-sensorischen Bewegungskonflikt von vegetativ-reflektorischen Schutzmechanismen zu trennen. Sowohl Steuerung als auch Regulierung von Gelenken erfolgt über Muskelaktivitäten, wobei einerseits Muskeln eine bestimmte Bewegung verursachen ( Agonisten ), während andere Muskeln dieser Bewegung entgegenwirken (Antagonisten ). Verschiedene Mechanismen auf der Ebene der Rückenmarks ( segmental ), des Gehirns ( supraspinal ) und im Muskelskelett selbst ( peripher ) arbeiten zusammen, um sowohl präzise, als auch schützende Bewegungen des ganzen Körpers zu gewährleisten, selbsttätig angepasst an die spezifischen Anforderungen der Situation.
Das Wechselspiel zwischen agonistisch und antagonistisch wirkenden Muskeln wird von drei Mechanismen betrieben:
Die schon lange bekannte Reziproke Inhibition erleichtert jede Bewegung, indem der Gegenspieler, der antagonistische innervierte Muskel, fast gleichzeitig gehemmt wird, damit sich der agonistisch wirkende Muskel effizient anspannen kann, ohne von der gleichzeitigen Aktivität des Antagonisten behindert zu werden. Bei der Beugung des Armes wird beispielsweise der Bizeps ( Agonist ) aktiviert, während der Trizeps ( Antagonist ) durch die reziproke Hemmung gebremst wird, was eine reibungslose Beugung ermöglicht.
Die Verschaltung findet vornehmlich auf Ebene des Rückenmarks statt, um dort Motoneuronen zu bedienen, welche Signale sowohl aus dem Segment, als auch von oben aus den motorischen Netzwerken des Gehirns ( sensomotorischer Cortex ) empfangen und direkt an die Muskelzellen weiterleiten. Auf ungleiche Weise wird in diesem Mechanismus ein Streck-Muskel gehemmt, damit sein Gegenspieler beugen kann.
Dagegen sind bei der sogenannten Ko-Kontraktion in gleicher Weise beide Gelenkpartner aktiv. Der Begriff Kokontraktion bezeichnet die Anspannung ( Kontraktion ) sowohl vom Agonist, als auch vom Antagonisten. Diese gleichzeitige Aktivierung sorgt für eine erhöhte Kontrolle und Stabilität, um das Gelenk bei Balance-Aktionen zu stabilisieren und vorsorglich vor Verletzungen zu schützen. Bei vielseitigen Bewegungen oder stabilisierenden Übungen spielt das Gehirn mit sensomotorischen Cortex und die Koordination im Kleinhirn eine Schlüsselrolle: dort werden zwar keine einzelnen Muskeln gesteuert, sondern Rückmeldungen verarbeitet und motorische Signale angepasst, um eine möglichst genaue Bewegung zu gewährleisten.
Bei Schutzmustern, wie dem Muskelzucken, dem Beugereflex, Überdehnungsreflex, Schutzspannungen oder Fehlsteuerung der Eigenwahrnehmung ( Propriozeption ), welche nicht willkürlich ausgelöst werden können, sondern auf Schadreize reagieren, wird typischerweise eine schnelle Muskelspannung ausgelöst, um die betroffenen Wirbel oder Gelenke aus der Gefahrenzone zu holen und umgehend die Heilungsmechanismen über die Blutbahnen zu starten.
In akuten Situationen erfolgt zuvor oft eine übergeordnete Reaktion auf Schmerzreize über absteigende Bahnen aus den Hirnregionen, was zu einer absteigenden Schmerzhemmung führt, welche die Signale aus den verletzten Geweben auf Rückenmarksebene völlig blockieren und damit Schmerzfreiheit bewirken kann, aber auch kurzfristig Lähmungserscheinungen bringt.
Meistens haben wir es jedoch mit einer länger anhaltenden segmentalen Hemmung zu tun, die über eingehende Fasern ausgelöst wird, welche zu den gleichen Nervenzellen im Rückenmark ziehen, die auch von den Schmerzfühlern in demselben Gebiet der Körperperipherie erregt werden (Nocizeption ).
Bei Knieschäden beobachtet man eine typische Abschwächung des inneren Kniestreckers bei gleichzeitigem Übertonus des äusseren Gegenspielers für das Kniescheibenspiel, wobei die Beugeketten von der Wirbelsäule bis Beckenring übererregt und die Streckmuskeln entsprechend gehemmt sind. Ein tastbares Erscheinungsbild, als ob es sich um einen fortgesetzten und übertragenen Beugereflex handele. Diese Reaktion ähnelt eher dem Prinzip der reziproken Innervation und nicht dem der Ko-Kontraktion. In der Wirkung wäre die Kokontraktion sogar kontraproduktiv, weil die Bewegungsfreiheit bei gleichzeitiger Anspannung noch weiter eingeschränkt würde.
Allerdings ist ein Zurückziehen der Gliedmassen nicht sinnvoll, wenn die schmerzauslösenden Reize nicht aus verletzten Haut, sondern aus den tiefen muskuloskeletalen Geweben selbst kommen. Denn der geschädigte Muskel soll ruhig gestellt und nicht noch mehr angespannt und verzogen werden. Der Signalkreis erfordert entweder eine vermehrte Ausschüttung von erregenden ( Glutamat; Aspartat ), beziehungsweise hemmenden Botenstoffen (Gammaaminobuttersäure, Acetylcholin ) in den Nervenzellen auf den Schaltebenen des Hirnstamms oder des Rückenmarks zwischen einlaufenden Schmerzreizen im Hinterhorn ( Interneuron ) und der ausgehenden letzten Nervenschaltung im Vorderhorn desselben Wirbelsegments ( alpha-Motoneuron ).
Da zwar nicht die Abwesenheit von Kraft, sondern die Anwesenheit von Schwäche und der Bewegungsverlust fühlbar ist, wobei die Muskelmessung noch aktive Signale zeigt, während die Aktivität von agonistisch und antagonistisch tätigen Muskeln nicht mehr klar trennbar ist, gehen die Physiologen zur Zeit davon aus, dass bei einem akuten Geschehen eine Ko-Kontraktion zur Stabilisierung und Vermeidung weiterer Schädigung vorliegt.
Bei chronischen Schmerzverhalten indes, und den damit einhergehenden dauerhaften Funktionsstörungen mit Asymmetrie, Bewegungseinschränkung und steifem, womöglich entzündlichem Gewebe, wären bei jeder Bewegung wiederum die Agonisten gehemmt und die Antagonisten aktiviert. Als ob diese Schutzspannung selbst zu weiteren Dysfunktionen führe, wenn die Muskeln überreagieren und die eigenen Schutzmuster, gleichgültig ob in Kokontraktion erstarrt oder in reziproker Hemmung erregt, nun als Schadquellen fehlfunktionieren.
Um in der täglichen Praxis hinreichend von gleichartigen Eindrücken zu reden, sind zwei Denkrichtungen hilfreich: die bottom up Wahrnehmung geht vom kleinen Detail aufwärts zum großen Ganzen und erlaubt uns von Geburt an, Schlüsselelemente und drohende Gefahren aus der Umwelt zu filtern. Nervenzellen im Gehirn ergänzen die unvollständigen Informationen aus der Umwelt, zum einen mit den ererbten Basisgefühlen und zum anderen mit den erworbenen Erfahrungen, zu einem Bild des Geschehens, das in die Wirklichkeit passt. Angewandt auf den weitaus häufigsten Rückenschmerz, der myofascialen Dysfunktion, ergeben sich
bottom up Merkmale wie
- Veränderungen in der elastischen Struktur der Muskelfaszien
- Mikroverletzungen in Muskelfasern und Fasziengewebe
- Störungen in der muskulären Kontrolle von Hemmung und Erregung einzelner Wirbelsegmente
- Örtliche feingewebliche Entzündungen und ihre zirkuläre Auswirkung auf weitere Noziception
Die Top down Wahrnehmung dagegen greift von oben herab tief in den Topf der Vorerfahrungen und holt zielsicher, augenblicklich, auf einen Schlag und aufmerksam all das bisher Erlernte, vielleicht Verdrängte, manch Gutes, aber vorsorglich mehr Böses, heraus und stellt damit ein zwar übertriebenes, aber persönlich produziertes Kopffilmchen her. So entstehen bei unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Bedeutungen des gleichen Sachverhalts.
Die Top down Betrachtung berücksichtigt
- Stress und psychische Belastungen als Auslöser für Muskelverspannungen
- Bewegungsmangel und sitzenden Tätigkeiten für mangelnde Ausdauerleistung der Muskeln
- Ernährungsgewohnheiten und der Einfluss von Zucker auf das Entzündungsverhalten im Gewebe
- Schlafqualität und ihre Auswirkungen auf Regeneration und Schmerzwahrnehmung
Im Schlaf merkt man nichts. Bewusstsein und Skelettmuskeln sind abgeschaltet, alles andere arbeitet lebhaft, aber unbewusst weiter. Kaum ist man wach und fragt den Nächsten nach seiner Gesundheit, nimmt der sich Zeit, horcht tief in den Topf seiner Sinneserfahrungen und kramt in seinem Wortschatz, um den Zustand zu bewerten, der ausreguliert Wohlbefinden auslöst. Denn Gesundheit merkt man erst, wenn sie fehlt. Von hundert Leuten, die man einvernehmlich mit der Spritze piekst, zucken hundert spontan weg und sagen sofort: " das tut weh ". Niemand braucht ein Gerät oder Arzt für die Antwort. Wenn das Schmerzgefühl auf sanften Druck oder leisen Zug im Gewebe sich erst verschlimmert und dann abnimmt, sind weder Nerven defekt, noch Immunzellen entgleist und auch keine Kindheitstraumen erwacht, sondern feine Schmerzfühler lebendig. Das Körpergefühl ist dem Bewusstsein offenbar längst bekannt, denn alles, was man nicht fühlt, ist es kein Gefühl.
Nur die Bewertung, wie es ist gepiekst zu sein, bleibt unscharf: was für manche bereits unerträglich ist, nehmen andere als aushaltbar so hin.
Das ungenehme Gefühl Schmerz sorgt dafür, etwas zu tun was notwendig ist. Gleichgültig ob Ursache oder Folge, ob durch einen tatsächlichen Defekt eines Organs oder durch mechanische, entzündliche oder thermische Gewebereizung ausgelöst. Das was man tun kann oder geschehen lassen muss, ist verbunden mit der Frage, woher denn Rückenschmerzen kommen: von der Bandscheibe, von der Arthrose, von der Stenose, von der Matratze, von den Genen, vom Tragen, vom Sitzen, vom Gewicht, vom Druck auf Nerven, vom Druck vom Chef, vom Stress, von freier Energie, vom Schreck, von Hormonen, von Hemmungen, von Wirbelblockaden, von schwachen Muskeln, von zähen Faszien, von gereizten Bändern, von steriler Entzündung, von fremden Erregern, vom Entzündungsaltern, vom Sauerstoffmangel, vom sauren Gewebe, vom Wetter? Von allein? Von wegen, .. von nichts kann nichts kommen.
Wir sind gut geübt darin, Muster in Ursache-Wirkung-Beziehungen zu erkennen. Allerdings nur, wenn eine Ursache zeitnah eine Wirkung erzielt. Schon dann, wenn es sich um zeitverzögerte Wirkungen handelt, entdecken wir die Ursache schlecht. Werden mehr als drei Ursachen nötig, um eine Wirkung zu entfalten, können wir diese kaum erfassen. Je mehr Ereignisse zusammentreffen müssen, damit etwas anderes geschieht, desto schwerer wird es für uns, die Ursachen festzulegen.
Der Grund ist angewandte Statistik: wenn wir wie oben 25 Gründe für den Rückenschmerz haben, dann gibt es auch 25 Möglichkeiten, dass genau einer davon der Auslöser ist. Wenn aber erst das Zusammentreffen von zwei Gründen sich zu dem besonders morgens einsetzenden stechenden Schmerz auswirkt, dann gibt es schon 300 verschiedene Paarungen, die man untersuchen müsste.
Das ist schwer zu verstehen, denn wir sind greifbare Ursachen gewohnt, möchten Lösungen haben und nicht Teil des Problems sein. Das Denken in Wahrscheinlichkeiten ist uns leider nicht in die Wiege gelegt.
Unsere Muskeln bewegen bei Kontraktionen nicht nur die Knochen, sondern auch die tiefen Faszien. Die spezifischen Krankheiten der Nerven, Muskeln, Gefässe, Sehnen oder Gelenke und ihre Symptome sind den Fachleuten natürlich bestens bekannt, aber die Rolle ihrer gitterartig vernetzten Hüllen weniger. Deshalb werden Beschwerden am Muskelskelett ohne erkennbare Schäden oder Ursachen oft als " unspezifisch " tituliert. Das ist nicht gut, denn dadurch werden Krankheiten, die durch Kontraktion der Muskeln, feingeweblich sterile Entzündung und faserige Steifigkeit entstanden sind, nur unzureichend beachtet, obwohl die Störungen durchaus spezifizierbar sind. Faszien bieten pausenlos mechanische Unterstützung und Schutz für Muskeln, Organe und andere Gewebe und helfen in jeder Sekunde, die Form und Struktur des Körpers zu erhalten. Diese weitgehend unbemerkten Gebilde sind Teil des Bindegewebes, liegen einerseits wie ein Neoprenanzug oberflächlich unter der Haut, bilden andererseits spannende Brücken zwischen den Gelenken und verbinden Muskeln und Organe durch feine Gitternetze. Ihr Stellungsspiel ist noch ungeklärt, aber übersät von feinen Nervenenden kommt der Mensch als aufrecht gehendes Spannungsgerüst daher. Feinste Sensoren von Nervenenden im Gitternetz helfen bei der Verteilung von Bewegungen, Belastungen, Haltungen und Spannungen des Muskelskelett zum Gleichgewicht in Zeit und Raum. Die Feinabstimmung der Signale werden hinten vom Kleinhirn und die Bewegungsplanung ganz oben vom sensorischen Cortex erledigt, welche untereinander in Rückkopplungsschleifen verbunden sind.
Leute von heute betrachten im Praxisalltag ein gereiztes Gelenk deshalb schon längst nicht mehr isoliert, sondern als Teil einer komplexen Nerven-Gefäß-Muskel-Faszien-Band-Kapsel-Organ-Funktion. Schon die normale Kraftübertragung passiert nicht nur über Muskeln und deren Bänder an das Gelenk, sondern auch lückenlos zwischen bindegewebigen Segmenten sowie quer zu gegenläufig arbeitenden Muskelsträngen. Muskeln können sich gegeneinander bewegen, weil ihre bindegewebigen Hüllen ihre Form festlegen und Gleitschichten bilden. Jeder Spannungsstau und jede feingewebliche Entzündung greift gern auf benachbarte Felder über, verstärkt sich in Bändern, Sehnen und Gelenkkapseln, löst bei Schritt und Tritt schädlichen Druck und Zug aus, was wiederum die Schmerzchemie unangenehm aktiviert und von Kopf bis Fuß fühlbar durchsickert ( Perkolation ), je nachdem welcher Zellverband im Heilungsprozess noch durchlässig oder schon wieder undurchlässig ist.
Eine neurogene Entzündung kann als Versuch des Organismus angesehen werden, einen Heilprozess zu starten. Bei einer Verletzung oder schädigendem Reiz durch vermehrten Druck und Zug durch anhaltende und chronisch Gewebeanspannung ( myofasciale Dysfunktion ) werden die feinen Nervenenden aktiviert und setzen schmerzwirksame Substanzen frei ( Substanz P, CGRP, H+Ionen, und andere). Diese sog. Neuropeptide bewirken eine Durchlässigkeit der Blutgefäße ( Permeabilität ), was zu Mehrdurchblutung im betroffenen Bereich mit Sauerstoff und Nährstoffen sorgt. Für Immunzellen ( Makrophagen; Granulozyten ) und entzündungsförderne Schmerzchemie ( Histamine, Zytokine und Wachstumsfaktoren ) haben ebenfalls den Weg frei, um aus dem Blut zu dem verletzten Gewebe zu gelangen. Diese Substanzen initiieren eine Entzündungsreaktion, die als erste Phase der Heilung erfasst werden kann. Schadstoffe und defekte Zellen werden von abtransportiert und die freigesetzten Wachstumsfaktoren ( Tgf alpha u. beta) und Zytokine ( Prostaglandine ) stimulieren die Einwanderung von Zellen, welche für die Gewebereparatur notwendig, wie zum Beispiel Fibroblasten oder Myofibrozyten, die Kollagen produzieren und neues Bindegewebe bilden oder umbilden. Eine kontrollierte, zeitlich begrenzte und ausbalancierte Entzündungsreaktion ist entscheidend für eine effektive Heilung. Wenn diese erstmals gutgemeine, feine und sterile Entzündung jedoch unkontrolliert und chronisch wird ( neurogene Inflammation ), kann sie zu anhaltenden Schmerzen und Gewebereizung führen, was wiederum dysfunktionelle Störungen an den Geweben der Gelenke bewirkt. Weitert sich diese Entzündung aus dem peripheren Muskelskelett bis zu den versorgenden Zellen im Rückenmark aus, spricht man schon von neurogener Neuroinflammation.
Für die Bewegungsfreiheit der Rückenwirbel und Gelenke kommen drei Barrieren ins Spiel:
Die anatomische Barriere ist ein Widerstand, bis zu dem ein Gelenk passiv gedreht werden kann. Zum Beispiel kann der Arzt mit etwas Mühe den Kopf nach jeder Seite um 90 ° rotieren. Bis hin zu den Füllejahren sind meist alle Bewegungsrichtungen frei möglich. Weniger Rotation weist auf strukturelle Schäden oder funktionelle Störungen hin. Drehversuche darüber hinaus lösen Reaktionen von Bändern, Kapseln oder Knochen aus.
Die strukturelle Barriere ist der Widerstand, bis zu dem man altersentsprechend selbst aktiv sein Gelenk bewegen kann. Zum Beispiel kann jeder seinen Kopf selbst mühelos um 80° nach rechts und links rotieren. Nach altersbedingten, degenerativen Veränderungen oder verletzten Segmenten gelingt diese Rotation entsprechend weniger. Das verminderte Gelenkspiel hat keine freie Richtung und ist nicht mehr zu erweitern ( irreversibel ). Gelenkentzündung findet innerhalb der Gelenkkapsel statt und der Reizzustand ist abhängig vom Immunverhalten. Der Schmerz ist örtlich provozierbar und begrenzt.
Die funktionelle Barriere ist derjenige Widerstand, der noch vor der strukturellen Barriere reflexartig auftritt und die freie Bewegung nach einer Seite behindert. Zum Beispiel mag jemand die vollständige Drehung des Nackens nach rechts mühelos erreichen. Manchmal ist es nur möglich, den Kopf nur bis 60 ° nach links zu drehen, weil die Rotation auf eine krankhafte Schonfunktion links trifft. Das Gelenkspiel ist zwar ebenfalls eingeschränkt, aber noch in mindestens einer Richtung frei. Diese dysfunktionelle Störung kann Ursache ( vom Gelenkschaden ausgehend ) oder Folge ( Gewebestörung zum Gelenk hin ) sein. Die Asymmetrie, der Bewegungsverlust und die Gewebekonsistent ist selbsttätig nach einer schmerzhaften Episode oder mit Behandlung auflösbar ( reversibel ), neigt jedoch zu Chronifizierung, membranöser Entzündung und fibröser Verhärtung. Der Schmerzzustand ist lokal meist an den Sehnenansätzen, oft ausstrahlend und vom vegetativen Nervensystem beeinflusst. Deren spürbare Auslöser sind verzogene Wirbelsegmente und ihre folgenreiche Verkettung bis in entferntere Regionen.
Der Entstehung des gemeinen Rückenschmerzes entspricht dem Grunde nach dieser biologischen Erklärung über Sinnesleistungen. Das bohrende, stechende, ziehende oder dumpfe Leiden wird als nervöses Geschehen empfunden, bei dem das Gehirn die Reize aus dem Körper interpretiert. Das Ergebnis wird als eine zutiefst negative Erfahrung wahrgenommen, die je nach sozialem, kulturellem, existenziellem, spirituellem, kognitiven und affektiven Einfluss für manche noch als erträglich gilt, für andere bereits als unerträgliche Katastrophe ausgelegt ist. Ob Mann oder Frau spielt im Muskelskelett ebenfalls eine bedeutsame Rolle.
Die besondere Sinneserfahrung " Hexenschuss !" entsteht aus einer tatsächlichen oder vermeintlichen Schädigung von Körpergeweben, die zwar nicht von Rezeptoren, sondern von feinen Enden schnell und langsam leitender Nervenfasern, den sog. Nozizeptoren aufgenommen werden. Diese Schmerzfühler sind in nahezu allen Gewebeschichten auf mechanische, chemische oder thermale Reize spezialisiert, transduzieren, transformieren bis hin zu den Segmenten des Rückenmark, auf dessen Ebene die Impulse mit den eingehenden Signalen aus anderen Geweben verschaltet und aufsteigend weitergeleitet werden. Auf allen Schaltebenen wird pausenlos verstärkt und gebremst und schon dort können reflexartige Schutzreaktionen bis zur myofaszielen Dysfunktion ausgelöst werden, um das Segment, Gelenk oder Organ vorsorglich für die Dauer des Heilungsablaufs aus der Gefahrenzone zu holen.
Das natürliche Schmerzsystem hat die biologische Funktion, zum Überleben seiner Spezies beizutragen und ist insoweit spezifisch. Die spezifische Funktion besteht darin, durch das subjektive Erlebnis " Schmerz ", einen körperlichen Schaden zu vermeiden. Das phänomenale Bewusstsein von nozizeptiver Signalaktivität, also wie es ist stechenden Schmerz im Rücken, Bein oder Kopf zu haben, erlaubt uns vernünftigen Lebewesen, aus dem einfachen Reiz-Reaktionsschema auszubrechen, das eigene Verhalten auf der Grundlage sensorischer Information zu ändern und den Umständen entsprechend anzupassen. Denn chronischer Stress kann auch Entzündung auslösen und damit die Steifigkeit ( Fibrose ) der Faszien erhöhen
Die wissenschaftliche Methode, gedanklich jegliches Gefühl und jeden Gedanken, egal ob hier und jetzt gegenwärtig oder nicht, von körperlich ausgedehnter Masse zu trennen, war für den medizinischen Fortschritt höchst erfolgreich. Keine Prothese, keine Impfung, keine Krebsbehandlung und kein intelligent hergestelltes Medikament ohne diese duale Historie. Man konnte handeln und modern sein, indem die Technik verfeinert wird, ohne die mechanische Erklärung der Lebensvorgänge aufgeben zu müssen. Der Hinweis, ob womöglich die geschlossene Struktur einer Maschine mit einer starren Ordnung verwechselt wurde, die offen auf Reize reagiert, welche dem Beobachter verborgen sind, wurde lange übergangen. Die Zerlegung des Menschen in seine Einzelteile und das Verstehen des Vorgangs hinter dem Vorgang, kann inzwischen auch komplexe Netzwerke, kollektives Verhalten, chaotische Konnektionen, kritische Kipppunkte und coole Krisen auf höheren Ebenen systematisch und informatisch erklären. Auch die Zuweisung von Bedeutung, zum Beispiel eine drohende Gefahr durch Gewebeschaden, ist neben dem Lernen und der Mustererkennung ein wichtiger Akt verknüpfender Intelligenz, da sie die Fähigkeit umfasst, körperliche Informationen zu verstehen, zu interpretieren und ihnen einen Wert zu geben. Eigentlich ist das Leben simpel. Um den Bescherden einen Sinn zu geben, kommt es auf die Wirklichkeit an und das ist das, was wir gerade fühlen und denken. Das, was wir glauben ist das, was zählt. Alles spielt sich in unserer Gedankenwelt ab, gleichgültig ob es in den Knöpfen der Geräte oder in den Köpfen der Leute passiert.
Der Mutterwitz jeder Therapie ist, Geschichten neu zu erzählen. Denn Heilung ist immer und grundsätzlich Selbstheilung. Der Arzt kann nur die Randbedingungen schaffen, damit eine Selbstregulation gelingt. Um zu zeigen, dass Dysfunktionen verstanden werden und die Antworten ihn in die Lage versetzen, sich neu anzupassen. Eingriffe mit der Hand sind physisch Vehikel für Informationen und verändern damit die Rezeptoren lebender Organismen, deren Gewebe und Zellaktivität. Ihre mentalen Reaktionen auf diese Einwirkungen werden nicht nur von einer mechanischen Reizung, sondern auch davon bestimmt, das Zeichen und Symbole für Rezeptoren eine Ursache-Wirkung-Beziehung haben, indem sie Handlungen auslösen und Bedeutungen vermitteln. Um die Prognose des Reizzustandes zu ändern, braucht es einen Ort, wo Heilung erneut gelingt. Wenn alles still ist, passiert am meisten. Das Gehirn empfängt die Signale, macht daraus Vorhersagen, hat ohne Dirigenten oder Lehrer gelernt mit Fehlanpassung umzugehen und bildet sich ständig mit dem nächsten Input um.
Hat allerdings die durch die myofasciale Dysfunktion ausgelöste feingewebliche Entzündung der tieferen Strukturen ein chronisch sensitives Ausmaß angenommen, das der Organismus nicht mehr selbst bewältigen kann, müssen mehrere, modale Therapieformen angesetzt werden, welche die hartnäckige Entzündung mit ihrem bindegewebigen Flächenbrand eindämmen sowie das Immunverhalten regulieren und das vegetative Nervensystem desensitivieren können. Denn chronischer Stress kann auch Entzündung auslösen und damit die Steifigkeit ( Fibrose ) der Faszien erhöhen. Im Vordergrund der Therapie von myofascial inflammatorischen Schmerzsyndromen und ihrer chronifizierten Befunde stehen unbestritten passive manuelle Techniken der übererregten Beugesysteme und Mobilisation der bindegewebigen Schichten vom Wirbelsegmenten bis zu den letzten Gelenken in der Kette mit den Folgen für den Sauerstoffwechsel im peripheren Gewebe.
Dichter dran, bleibt der ärztliche Tastsinn das aufmerksamste diagnostische Mittel, um sich ein schlüssiges Bild von der Bewegungshemmung im Muskelskelett zu machen, das Risiko von Fehleinschätzungen zu mindern und positiv rückkoppelnd einzugreifen. Seine Empfindlichkeit und Energie verfeinert sich durch stetigen Gebrauch.
Die Ausbildung zum osteopathischen Arzt nach amerikanischem Vorbild ( DAAO.info) geht weit über das eingeschränkte Gelenkspiel hinaus. Bereits vor hundert Jahren wurde dort erkannt, dass die Behandlung von Störungen der Schutzfunktion ( verklemmte Gesundheit ) ebenso einer ärztlich fundierten Ausbildung bedarf, wie die Reparatur von Defekten in der Struktur ( manifeste Krankheit ).
Angedockt an die Erfahrung eines ganzen Beruflebens erhält die geschulte Hand ihre Urteilskraft zurück. Erst wenn die Fehlspannung bleibt oder der Schmerz zunimmt, kommen bildgebende Verfahren zum Einsatz. Nicht umgekehrt, sonst wird es schwierig, aus der Opferrolle eines eher harmlosen, altersgemäßen Befundes herauszukommen. Die Zellen mögen nämlich keinen Kampf, sie möchten überredet werden.